Gender – und Diversity Data Gap in der Gesundheitsversorgung

Derzeit ist Gendermedizin en vogue. Nicht zuletzt aufgrund der Corona-Pandemie – denn hier stellen sich plötzlich Fragen, warum sterben cis -Männer häufiger an COVID-19 als cis Frauen, warum aber erkranken Frauen häufiger.

Zu Menschen, die keine eindeutige Geschlechtsidentität für sich beanspruchen fehlen Datensätze, um eine gute Gesundheitsversorgung flächendeckend umsetzen zu können. So z.B. zum Brustkrebsrisiko bei Transpersonen, die im Falle einer Transition hormonelle Behandlungen in Anspruch nehmen.

Eine gute Gesundheitsvorsorge soll alle Menschen mit ihren Bedarfen erfassen können. Hierzu gehört auch, sich den Konstruktionscharakter von Geschlecht bewusst zu machen und nicht mehr von einer Zweigeschlechtlichkeit, sondern einer Vielzahl von Geschlechtern auszugehen. Die Gesundheitsversorgung ist hierauf noch nicht ausreichend eingestellt.

Wir möchten das ändern.

COVID-19 und einige geschlechtssensible Aspekte

Einige Fragen lassen sich zumindest teilweise beantworten. So haben Frauen ein wirksameres Immunsystem als Männer – einige Gene für die Immunantwort liegen auf dem X-Chromosom, von dem Frauen 2 Stück haben. Auch haben Frauen weniger starke Entzündungsreaktionen im gesamten Körper. Das schützt sie besser vor schweren COVID-19-Verläufen als Männer. Dazu kommen weitere geschlechtsspezifische Unterschiede, die zum Beispiel die Andockstellen auf den Zellen betreffen, die dem SARS-Cov2-Virus als Eintrittspforte in die Körperzellen dienen und viele weitere [siehe z. B. Catherine Gebhard et al. 2020, https://bsd.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13293-020-00304-9]. 

Das sind geschlechtsspezifische Unterschiede, also Unterschiede aufgrund der Biologie der Frau, die mitbestimmt werden durch zwei X-Chromosomen, eine andere hormonelle Situation, einen anderen Stoffwechsel eine andere Körperkonstitution, was den Anteil an Fett, Muskel und Bindegewebe betrifft, um nur einige zu nennen.

COVID-19 und Genderaspekte

Wenn Frauen eine bessere Immunabwehr haben, warum infizieren sie sich dann häufiger als Männer? Hier kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit der „Genderaspekt“ zum Tragen. Denn Frauen arbeiten häufiger in Gesundheits- und Pflegeberufen und in anderen Bereichen, wo sie teilweise längere Zeit engen Kontakt zu anderen Menschen haben, beispielsweise als Friseurin oder bei der Pediküre. So sind etwa drei Viertel der Beschäftigten im Gesundheitswesen weiblich, doch FFP2-Atemschutzmasken passen nur etwa 85 % der Frauen, während die Quote bei den Männern bei 95 % liegt. Dies ist bedingt durch die unterschiedlichen Gesichtsformen und Größenverhältnisse und stellt für Frauen ein zusätzliches Gesundheitsrisiko dar. [siehe z. B. Danielle A. D’Annibale et al. 2021; https://www.liebertpub.com/doi/10.1089/jwh.2020.8847

Es gibt also tatsächlich einige Daten. Auffällig ist jedoch, dass auch in der COVID-19-Forschung mögliche Geschlechter- und Genderunterschiede viel zu wenig erforscht werden. Interessanterweise hat schon die britische Autorin Caroline Criado Perez in Ihrem 2019 erschienenen Bestseller „Unsichtbare Frauen – wie eine von  Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ [btb, 2020, 4. Auflage] in zwei Kapiteln des Buches zum Gender-Data-Gap in der Medizin geschrieben. Hier erwähnt sie auf S. 270, dass manche Stränge des Infuenza-Virus während der Schwangerschaft zu besonders schweren Symptomen führen würden und schlussfolgert: „Natürlich ist es verständlich, dass Schwangere zögern, an klinischen Studien teilzunehmen, doch das heißt nicht, dass wir die Unwissenheit einfach hinnehmen müssen: Wir sollten Gesundheitszustand und Krankheitsverläufe schwangerer Frauen routinemäßig erfragen, dokumentieren und kollationieren. Das tun wir aber nicht einmal während Pandemien.“ Hier bezieht sie sich auf den SARS-Ausbruch im Jahr 2004 und betont, dass solche Informationen bei der nächsten Pandemie fehlen würden – Wie recht sie doch hat!

Viele Forscherinnen und auch einige Forscher mahnen immer wieder an, die Geschlechts- und Genderunterschiede in der medizinischen Forschung zu berücksichtigen, denn nur so können Frauen und Männer auch wirklich gut behandelt werden. Die bisherige Praxis – die Erkrankung und ihre Behandlung wird überwiegend am Mann erforscht und gilt daher auch für die Frau – ist nicht mehr haltbar. Wir könnten es besser zum Wohle aller Geschlechter. 

Auch aktuelle Studien legen keinen Wert auf die Auswertung nach Geschlecht 

Ein sehr eindrückliches Beispiel schilderte Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek beim Internistenkongress 2021(DGIM 2021). Ein bereits zugelassenes Medikament mit dem Wirkstoff Colchicin wurde in der COLCOT-Studie zusätzlich zu den Standardmedikamenten bei der Behandlung nach einem akuten Herzinfarkt geprüft. Dazu erhielten die 4.775 Teilnehmerinnen und Teilnehmer entweder eine Wirkstoff- oder eine Placebotablette. In so einer Studie würde man erwarten, dass gleich viele Männer und Frauen eingeschlossen werden. Teilgenommen hatten jedoch nur 909 Frauen, das sind lediglich 19,2% (Link zur Originalstudie: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1912388).

Colchicin konnte recht effektiv spätere Todesfälle, weitere Herzinfarkte oder andere schwere Herz-Kreislauf-Ereignisse reduzieren. Die Risikoreduktion betrug für alle Teilnehmenden 23%. Allerdings wurden weder die Wirksamkeit noch die unerwünschten Wirkungen getrennt für Frauen und Männer publiziert. Nur im elektronischen Anhang ist eine Auswertung nach Geschlechtern zu finden. Diese zeigt, dass Männer von dem Medikament profitieren, ihr Risiko für spätere schwere Herz-Kreislauf-Ereignisse sinkt um 30%. Die Frauen profitieren jedoch gar nicht, ihre Risikoreduktion wurde mit 1% angegeben, also de facto keine Risikoreduktion. Ein ganz ähnliches Ergebnis zeigt eine zweite Studie mit diesem Medikament (Link zur Originalstudie: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/nejmoa2021372). 

Kein Einzelfall

Dieser Befund sei weder thematisiert noch diskutiert worden, kritisierte Regitz-Zagrosek. Dabei sind genau solche Auswertungen und die Diskussion dazu sehr wichtig, sowohl für Frauen als auch für Männer. Denn es stellt sich die Frage, warum gibt es diese Unterschiede – hier gibt es also weiteren Forschungsbedarf. Und weiter hätte ein solche Ergebnis, wenn man es offenlegt, Auswirkungen für die Behandlung und damit die Gesundheit der betroffenen Frauen und Männer: Denn Männer profitieren mehr von der Behandlung – und Frauen gar nicht. Das würde eine stärkere Empfehlung für Männer bedeuten, während man Frauen die Einnahme eines unwirksamen Medikamentes mitsamt möglicher Nebenwirkungen ersparen könnte. 

Wichtig zu wissen, es handelt sich bei den berichteten Studien um medizinische Forschung. Das Medikament Colchicin ist bislang nicht für die Behandlung nach einem akuten Herzinfarkt zugelassen. Es wird jedoch eingesetzt zur Vorbeugung und Behandlung von Gichtanfällen. 

Allerdings ist dieser Befund kein Einzelfall. An vielen medizinischen Studien nehmen nicht ausreichend viel Frauen teil. In vielen Studien werden weder die Wirkungen und noch seltener die Nebenwirkungen nach Geschlecht ausgewertet. 

Umdenken bei den Forschungs-Verantwortlichen gefragt

Um diesen Gender-Data-Gap in der Medizin aufzuheben ist ein Umdenken gefragt, und zwar bei vielen: bei den Forscher*innen selbst; in der pharmazeutischen Industrie, die häufig die Studien finanziert; bei den Behörden, die diese Studien genehmigen (in Deutschland sind das das Bundesministerium für Arzneimittel und Medizinprodukte oder das Paul-Ehrlich-Institut); bei den Verlagen, die solche Studien publizieren und auch bei den Patient*innen. Fragen Sie nach, ob das Arzneimittel, das ihnen gerade verschrieben wird, nach Geschlechtern getrennt ausgewertet wurde – und was das für sie als Frau oder Mann bedeutet. 

Schreibe einen Kommentar